Der Rhein im Herzen Europas gehört vor allem in sozio-ökonomischer Hinsicht zu den herausragendsten Strömen im globalen Maßstab. Weltweit zum ersten Male in einem derartig bedeutenden Flussgebiet und für einen derart langen Zeitraum wurde im Auftrag der Internationalen Kommission für die Hydrologie des Rheins (KHR) im Rahmen des Projektes „Das Abflussregime des Rheins und seiner Nebenflüsse im 20. Jahrhundert" untersucht, ob und inwieweit sich im Verlauf der letzten einhundert Jahre im Gewässersystem grundsätzliche Änderungen im Abflussverhalten ergeben haben. Dabei konnte festgestellt werden, dass im Rheingebiet „die Zukunft schon begonnen hat": D.h. charakteristische Merkmale der von den einschlägigen Prognosemodellen für die Zukunft in Mitteleuropa vorausgesagten klimatischen Änderungen mitsamt ihren Folgen für das Abflussregime manifestieren sich bereits im hydrologischen Geschehen der letzten 100 Jahre.
Auf das gesamte Rheingebiet bezogen stieg demnach die im hydrologischen Kreislauf befindliche Wassermenge von 1901 bis 2000 an: Der mittlere Abfluss am Pegel Lobith (Niederlande, unweit des Mündungsdeltas des Rheins in die Nordsee gelegen) erhöhte sich in diesem Zeitraum um rd. 11%. Bei den Hochwasserextremen (untersucht am Beispiel der Hochwasserscheitel / HQ) zeigen sich vielfach gesicherte Anstiegstrends; dagegen weisen die Ergebnisse der zeitreihenanalytischen Auswertung der Kenngröße NM7Q* bei Niedrigwasserextremen auf eine vorhandene Abmilderungstendenz im Laufe des Jahrhunderts hin.
Über diese überschlägig-synoptischen Aussagen hinaus zu beachten sind jedoch wesentliche regionale und saisonale Differenzierungen. Diese ergeben sich zum einen vor dem Hintergrund naturräumlicher Unterschiede und zum anderen angesichts unterschiedlicher anthropogener Einflussnahme im Einzugsgebiet. Dabei nehmen in dem vorliegenden komplizierten Prozessgefüge die meteorologischen Einflüsse in Gestalt von Temperatur- und Niederschlagssteigerungen im Jahrhundertverlauf (die insbesondere die Wintermonate betreffen), die energiegewinnungsorientierte Talsperrenbewirtschaftung im Alpenraum sowie - in kleineren Teileinzugsgebieten - nutzungsbedingte Wasserüberleitungen aus anderen Flussgebieten die prominentesten Rollen ein.
Unter "Abflussregime" versteht man, vereinfacht gesagt, den regulär zu erwartenden innerjährlichen Abflussgang eines Fließgewässers. Hierzu wurde festgestellt, dass die Änderungen im Abflussregime des Rheins im 20. Jahrhundert zwei verschiedenen Grundmustern folgen; auf den Strom bezogen ist dabei geographische Trennlinie in etwa die Mainmündung: Die von den Alpen her nivaI** beeinflussten Regimes an Alpen- und Hochrhein sind grundsätzlich gekennzeichnet durch niedrige Abflüsse in den Wintermonaten (weil dann Eis und Schnee Fließvorgänge einschränken) und ein stark durch Schneeschmelze geprägtes abflussstarkes Sommerhalbjahr. Temperaturerhöhungen bewirken hier einen höheren Anteil flüssiger Niederschläge in der kalten Jahreszeit, dadurch eine Verringerung der als Schnee gebundenen Wasseräquivalente sowie eine kürzere Persistenz der winterlichen Schneedecke. Bereits im Winter abgeflossene Niederschläge stehen dann bei der Schneeschmelze in der Sommersaison nicht mehr zur Verfügung. Es stellt sich dabei de facto eine mit der Verringerung der innerjährlichen Variabilität einhergehende Abfluss-Umverteilung von den Sommer- in die Wintermonate ein. Dieser klimatisch induzierte Prozess wird verstärkt durch die gleichartig wirkende Talsperrenbewirtschaftung im Alpenraum, bei der im Sommer Oberflächenwasser entnommen und zwischengespeichert und im Winter zur Energiegewinnung wieder zugegeben wird (vgl. Abbildung Pegel Basel).
Abgesehen von der beschriebenen Umverteilungsdynamik sind im südlichen Rheingebiet, insgesamt nicht oder kaum veränderte Jahresmittel des Abflusses zu beobachten. Dies steht im Einklang mit nur geringen Mengenänderungen der Jahresniederschläge. Stärkere Dynamik besteht im Jahrhundertverlauf allerdings bei den außergewöhnlichen Abflusssituationen, insbesondere im Falle der typischerweise im Winterhalbjahr auftretenden extremen Niedrigwasserabflüsse, wo verbreitet signifikante ansteigende Trends (d.h. Abmilderung) konstatieren werden. Auch bei den extremen Hochwasserscheiteln sind (wenngleich geringere, seltener trendgesicherte) Abflussanstiege zu belegen, bei deren Zustandekommen u.a. veränderte Scheitellaufzeiten (z.B. infolge Flussbaumaßnahmen) und eine Zunahme von Starkregenereignissen bedeutsam sind.
Pegel Basel / Oberrhein (oben) und Rees / Niederrhein (unten): Veränderungen im Abflussregime in Gestalt des innerjährlichen Abflussgangs im 20. Jahrhundert (Standardisierungsreferenz: Zeitraum 1901-2000)
Der vieldiskutierte „Gletscherrückgang" ist entgegen anderslautender Vermutungen und Medienberichten an den beschriebenen Modifikationen des mittleren Abflussverhaltens des Rheins außerhalb der unmittelbaren Alpenregion nicht in nennenswerter Weise beteiligt. Beispiel: Im Hochsommermonat August, zu einer Jahreszeit also, in der die Gletscherschmelze besonders intensiv vonstatten geht, beträgt überschlägig der Abflussanteil, der durch Gletscherschmelze infolge säkularen Temperaturanstiegs zusätzlich bedingt ist, im Rhein bei Basel nur rund 1,2 % (ca. 15 m³/s) des Monatsmittels.
In den Mittelgebirgs- und Flachlandregionen des nördlicheren Rheingebietes herrscht milderes maritimes Klima. Schneeretention und Schneeschmelzprozesse spielen für die dortigen pluvialen*** AbflussregimesIII eine nachrangige Rolle. Typische Hochwasserzeit ist hier der Spätwinter, Niedrigwasser herrscht im Spätsommer und Herbst. In dieser geringer reliefierten Zone wirkten sich die Veränderungen der atmosphärischen Zirkulationsmuster in Mitteleuropa mit ihrer Zunahme an feuchten, niederschlagsträchtigen Großwetterlagen im Jahrhundertverlauf einheitlicher und durchgreifender aus als in dem orographisch zergliederten südlichen Einzugsgebiet. Deshalb ist hier zunächst in den Teileinzugsgebieten der Nebenflüsse, dann zunehmend auch im weiteren Stromverlauf des Rheins selbst insgesamt eine Abflusszunahme nachzuweisen, deren saisonaler Schwerpunkt, der Niederschlagscharakteristik folgend, im ohnehin wasserreichen Winterhalbjahr liegt (vgl. Abbildung Pegel Rees). Damit verbunden ist daher ein verbreiteter Trend zur Verschärfung der (winterlichen) Extremhochwasser. Für Niedrigwassersituationen konnten im nördlichen Rheingebiet nicht für den Strom selbst, wohl allerdings in einigen Fällen in Nebenflusseinzugsgebieten, trendhafte, also statistisch gesicherte Veränderungen festgestellt werden. Diese standen stets im Kontext mit anthropogenen Eingriffen, z.B. Kühlwasserentnahmen von Kraftwerken bzw. wasserwirtschaftlichen Zu- oder Ableitungen.
KHR-Publikationen zum Thema Änderungen im Abflussregime
- Belz, J.U.; Brahmer, G.; Buiteveld, H.; Engel, H.; Grabher, R.; Hodel, H.; Krahe, P.; Lammersen, R.; Larina, M.; Mendel, H.-G.; Meuser, A.; Müller, G.; Plonka, B.; Pfister, L.; Van Vuuren, W. (2007): Das Abflussregime des Rheins und seiner Nebenflüsse im 20. Jahrhundert - Analyse, Veränderungen, Trends. Bericht Nr. I-22 der KHR, Lelystad.
- Grabs, W. (ed.) (1997): Impact of climate change on hydrological regimes and water resources management in the Rhine basin. Bericht Nr. I -16 der KHR, Lelystad
- Buck, W.; Felkel, K.; Gerhard, H.; Kalweit, H.; Malde, J. van; Nippes, K.-R.; Ploeger, B.; Schmitz, W. (1993): Der Rhein unter der Einwirkung des Menschen - Ausbau, Schiffahrt, Wasserwirtschaft. Bericht Nr. I -11 der KHR, Lelystad
* niedrigstes arithmetisches Mittel des Abflusses an 7 aufeinanderfolgenden Tagen eines Bezugszeitraumes
** nival = im Jahresverlauf vorwiegend durch Schnee bzw. Schneeschmelze geprägter Abflussgang
*** pluvial = innerjährliches Abflussverhalten vorwiegend durch das Wechselspiel von Regen und Verdunstung geprägt
Autor: Jörg Uwe Belz (Bundesanstalt für Gewässerkunde - BfG, Koblenz).
Letzte Aktualisierung: 01.12.2010 durch belz@bafg.de